Theorie der persönlichen Konstrukte

 

[engl. personal constructs theory], [DIA, KLI, PER, SOZ], die Theorie der persönlichen Konstrukte von George A. Kelly, 1905–1966) ist eine Theorie der Persönlichkeit, in deren Zentrum interindiv. Unterschiede in der Wahrnehmung der eigenen Person und sozialen Umwelt stehen (soziale Wahrnehmung). Die Theorie der persönlichen Konstrukte ist zudem eine Konzeption, die den Menschen konsequent als ein konstruierendes Wesen betrachtet und als eine der ersten konstruktivistischen Theorien in der Ps. angesehen werden kann. Kelly interessierte sich dafür, mit welchen Begriffen einzelne Individuen die Persönlichkeit von sich und anderen beschreiben. Solche Begriffe nannte er «persönliche Konstrukte» (personal constructs) – «Konstrukte», weil sie vom Individuum konstruiert werden, «persönliche», weil sie von Individuum zu Individuum variieren können. Kelly interessierte sich somit für die individualtypischen Aspekte des Selbstkonzepts (Selbstbild) und der sozialen Wahrnehmung einzelner Menschen. Mit ihrer Betonung der Wahrnehmung wird Kellys Theorie oft auch als eine frühe «kognitive Persönlichkeitstheorie» bezeichnet (nicht zu verwechseln mit der sozialkogn. Lerntheorie der Persönlichkeit).

Kelly wandt sich in seiner Theorie entschieden gegen die in der Ps. weit verbreitete Subjekt-Objekt-Trennung, die den Forscher als (aktiv handelndes) Subjekt, die Vp als (passiv reagierendes) Objekt konstruiert. Für ihn begegnen sich in psychol. Untersuchungen Subjekte auf gleicher Augenhöhe. So sieht Kelly den Menschen als Wissenschaftler und den Wissenschaftler als Menschen: «Man as Scientist», wie es Kelly formuliert. Damit werden die Ziele wiss. Handelns zu Zielen menschlichen Handelns ganz allg. Als zentrale Ziele wiss. Handelns gelten Erklärung, Vorhersage und Kontrolle. Bei Kelly stehen Vorhersage und Kontrolle im Zentrum der Betrachtung. Jede Person antizipiert Ereignisse (Antizipation) und gewinnt so ein gewisses Ausmaß an Kontrolle über sich und ihre Umgebung. Antizipationen spielen bei Kelly eine Schlüsselrolle. Alle Prozesse eines Menschen werden durch die Art und Weise, wie er Ereignisse antizipiert, psychol. vermittelt und geprägt. Das ist das Grundpostulat seiner Theorie der persönlichen Konstrukte. Aus den elf Korollarien, die er seinem Grundpostulat an die Seite gestellt hat, geht hervor, wie dieses Grundpostulat genauer zu verstehen ist: Das Konstruktionskorollarium z. B. macht deutlich, dass Antizipation eine Form der Konstruktion darstellt, das Individualitätskorollarium, dass Konstruktionen in interindiv. unterschiedlicher Weise erfolgen, und das Erfahrungskorollarium, dass auch intraindiv. mit Veränderungen zu rechnen ist (Erfahrung). Grundlage der Antizipationen, die eine Person vornimmt, ist, so wird es im Organisationskorollarium behauptet, ein für sie charakteristisches Konstruktsystem, eben ihr «System persönlicher Konstrukte». Veränderungen innerhalb eines Konstruktsystems werden dem Modulationskorollarium zufolge durch die Permeabilität oder Durchlässigkeit der Konstrukte begrenzt, die bei hoher Permeabilität die Aufnahme neuer Elemente in ihren Brauchbarkeitsbereich erlauben, bei geringer Permeabilität aber einer derartigen Erweiterung im Wege stehen. Von bes. Bedeutung sind die beiden letzten Korollarien, das Ähnlichkeits- und das Sozialitätskorollarium, die die Brücke zw. den einzelnen Personen schlagen. Je ähnlicher die Konstruktsysteme zweier Personen sind, so Kelly, desto ähnlicher werden auch ihre Prozesse sein. Gelingende Kommunikation zw. zwei Personen setzt voraus, dass beide Personen die Konstruktionen ihres Gegenübers zu rekonstruieren versuchen und dabei Erfolg haben. Vor dem Hintergrund dieser Annahmen setzt Kelly die Persönlichkeit einer Person mit ihrem Konstruktsystem gleich. Eine so verstandene Persönlichkeit einer Person ist nichts, was nicht veränderbar wäre. Es gehört zu den Grundüberzeugungen von Kelly, dass es zu jeder Konstruktion alternative Konstruktionen gibt. Deshalb wird auch von einem «konstruktiven Alternativismus» gesprochen. Diese Überzeugung liegt der therapeutischen Anwendung der Theorie der persönlichen Konstrukte i. R. der sog. Fixed Role Therapy zugrunde, in der der Pat. angehalten wird, eine best. alternative Konstruktion (feste Rolle) auszuprobieren.

Wegweisend ist die Theorie der persönlichen Konstrukte auch für die Konstruktion idiografischer Methoden (idiografisch) der Erhebung diagn. Informationen gewesen. Zur Erfassung dieser persönlichen Konstrukte entwickelte Kelly den role construct repertory test (rep test), der wegen seiner matrixartigen Darstellung Rollen × Konstrukte auch als Grid-Test [engl. grid = Matrix, Raster] bezeichnet wird (dt. Version von Riemann, 1991). Hierbei bekommt die Testperson eine Liste von sozialen Rollen vorgelegt, die wichtige Personen in ihrem Alltag beschreiben, z. B. Mutter, ungeliebter Lehrer, geliebter Lehrer, Ex-Partner, Chef. Für jede Rolle benennt die Testperson eine konkrete Bezugsperson, die in die Rolle passt (falls es eine solche gibt). So werden ca. 20 Rollen konkretisiert. Dann werden jew. zwei dieser Personen vorgegeben und es wird gefragt, in welcher Hinsicht sich diese beiden ähnlich sind und sich von einer ebenfalls ausgewählten dritten Bezugsperson unterscheiden. Worin sie sich nach Meinung der Testperson ähnlich sind, wird das Ähnlichkeitskonstrukt genannt, worin sie sich unähnlich sind, das Gegensatzkonstrukt. Diese Konstrukte soll die Testperson möglichst knapp verbal beschreiben; anschließend werden sie nach Ähnlichkeit klassifiziert. Die Zahl ähnlicher Konstruktklassen best. die kogn. Komplexität der Person, und Personen können hinsichtlich der Anzahl und Art der Konstruktklassen miteinander verglichen werden.

Der rep test ist ähnlich wie der Q-Sort (Q-Sortierung) ein individuumzentriertes Testverfahren (Test), bei dem reiche Information über den Einzelfall gesammelt wird, bevor Individuen hinsichtlich ihrer Persönlichkeit verglichen werden. Während beim Q-Sort die Eigenschaften vorgegeben sind, werden sie beim rep test von der Testperson selbst generiert, sodass der rep test als ein idiografisches Verfahren charakterisiert werden kann. Er wird in der Psychotherapie und der Personalpsychologie angewandt.

Referenzen und vertiefende Literatur

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