Sozialkonstruktivismus

 

[engl. social constructivism; lat. construere herstellen; constructio Zusammenschichtung], [FSE, KOG, PHI, SOZ], Sozialkonstruktivismus nimmt an, dass die den Menschen umgebende Wirklichkeit keine objektiv gegebene, sondern eine soz. konstruierte ist (Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie, Sozialphänomenologie). Die Menschen treten dabei stets einer bereits sinnhaft konstruierten Wirklichkeit entgegen und reproduzieren oder modifizieren diese durch ihre weiteren Interaktionen: «Sowohl nach ihrer Genese (Gesellschaftsordnung ist das Resultat vergangenen menschlichen Tuns) als auch in ihrer Präsenz in jedem Augenblick (sie besteht nur und solange menschliche Aktivität nicht davon ablässt, sie zu produzieren) ist Gesellschaftsordnung als solche ein Produkt des Menschen» (Berger & Luckmann, 1974, S. 55). Sozialkonstruktivistische Ansätze bilden dabei keine einheitliche Theorie; es lassen sich unterschiedliche Vorstellungen differenzieren darüber, durch welche Prozesse oder Mechanismen die soz. Wirklichkeit hergestellt, verobjektiviert wird. Allerdings bauen wohl alle sozialkonstruktivistischen Annahmen auf «drei Axiomen» (Kruse, 2013) auf:

1. Axiom: Wirklichkeit ist immer kontingent, da sie stets konstruiert ist! Qualitative Sozialforschung ist im Prinzip empirisch angewandter Konstruktivismus. In der qual. Forschung ist es eine wissenschaftstheoretische Basisannahme, dass Wirklichkeit niemals obj. Wirklichkeit ist, sondern stets interaktiv hergestellte, also konstruierte Wirklichkeit (Konstruktivitätspostulat). Wirklichkeit liegt damit immer in unterschiedlichen Versionen vor (Versionenhaftigkeit) und es verbietet sich damit, die Frage zu stellen, wie wahr diese Wirklichkeit ist; allenfalls kann man fragen, wie nützlich sie ist, d. h. wozu sie dient (Watzlawick, 1976). Mit diesem konstruktivistischen Wirklichkeitsverständnis wird aber auch deutlich, dass Wirklichkeit stets kontingent ist, d. h., Wirklichkeit könnte immer auch ganz anders aussehen (Kontingenzannahme). Dass Wirklichkeit immer kontingent, da stets sozial konstruiert, ist, heißt aber nicht – was ein häufiges konstruktivistisches Missverständnis ist –, dass sie willkürlich, beliebig oder zufällig ist, denn sie vollzieht sich immer nach spezif. Regeln und Relevanzen (die auch erforscht werden können) in sinnhafter Weise. Dass Wirklichkeit immer kontingent, da stets sozial konstruiert, ist, heißt ebenfalls nicht, dass sie nicht «objektiv» ist für die sozialen Akteure, die sich in ihr bewegen. Dies kann allein über das bekannte Thomas-Theorem verdeutlicht werden: «If men define situations as real, they are real in their consequences» (Thomas & Thomas, 1928, S. 572).

2. Axiom: Alles hat bzw. ergibt einen Sinn! Aus diesem Konstruktivitätspostulat und der damit inhärenten Kontingenzannahme folgt ein zweites Axiom, das sich auf den ersten Blick wie eine Zumutung äußert: Alles hat bzw. ergibt einen Sinn. Diese Sinnhaftigkeitsunterstellung ist jedoch elementar für die qualitative Sozialforschung. Sie ergibt allerdings nur Sinn, wenn ein spezif. Sinnbegriff angewendet wird, der in seinem ersten Zugang zur Wirklichkeit nicht normativ bzw. moralisch-ethisch konzipiert ist, sondern rein existentialistisch (eine Wirklichkeit ist existent geworden und damit muss es einen Grund, einen Sinn geben, dass diese genau so existent geworden ist) und erst im Nachhinein in diesen Dimensionen wertend reflektiert wird.

3. Axiom: Nichts ist selbstverständlich! Aus den beiden vorherigen Voraussetzungen qual. Sozialforschung ergibt sich das dritte Axiom: die Infragestellung alles Selbstverständlichen, die als «Ent-Selbstverständlichung» bezeichnet werden kann (Verfremdungshaltung), ist eine erste Voraussetzung, sich auch von den Selbstverständlichkeiten in Hinblick auf die eigenen Wirklichkeitskonstruktionen zu lösen. Sie ist von elementarer Bedeutung in Bezug auf ganz unterschiedliche Dimensionen und Phasen des qual. Forschungsprozesses.

Referenzen und vertiefende Literatur

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