Leibniz, Gottfried Wilhelm

 

(1646–1716), [HIS, PHI], 1667 Promotion zum Doktor beider Rechte in Nürnberg-Altdorf, 1670 Rat am kurfürstlichen Oberrevisionsgericht in Mainz, 1676 Hofrat in Hannover, 1691 Bibliothekar der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Er gilt als wichtigster dt. Philosoph zw. der Scholastik und Immanuel Kant, und wird oft als letzter Universalgelehrter bez. Zum zweihundertjährigen Todestag im Jahr 1916 wurde Leibniz von Wilhelm Wundt als der Gründer der neueren Philosophie in Dt. gewürdigt. Leibniz gehört zu den frühen Vertretern einer allg. Entwicklungsgeschichte der Menschheit, bezieht sich auch auf biol. Entwicklungsvorgänge, aber noch nicht im späteren Sinn der Evolution. Seine Beiträge reichen von der Jurisprudenz, Moralphilosophie, Diplomatie, Theologie und Philosophie, Mathematik (Infinitesimalrechnung, Rechenmaschine) bis zur Technik und zum Bergbau.

Durch seine Erkenntnistheorie und durch seine Beobachtungen trug Leibniz grundlegend auch zur modernen Ps. bei. Innerhalb der phil. Fachliteratur gibt es jedoch kaum Bezüge zu diesem Interessengebiet, auch in der heutigen Ps. ist er weitgehend vergessen, obwohl er einen wesentlichen Einfluss auf Wilhelm Wundt, den Gründer der Ps. als Disziplin hatte. Leibniz verwendete noch nicht das Wort psychologia, das von Johann Thomas Freigius (1574) eingeführt wurde, sondern schrieb über psychol. Themen hauptsächlich in seiner Monadologie und in seinen Neuen Essays. Leibniz distanzierte sich von dem einflussreichen John Locke: „Nihil est in intellectu quod non fuerit in sensu, nisi intellectu ipse“ (Nichts ist im Verstande, was nicht in den Sinnen gewesen ist: ausgenommen der Verstand selbst; Leibniz, Nouveaux essais, 1765). Hier weist Leibniz mit dem ironischen Nachsatz John Lockes schlichten Sensualismus (Empirismus) zurück, denn der Intellekt sei keine «leere Tafel». Die Logik, die Kategorien und Prinzipien des Denkens sind nicht schon in den Sinneseindrücken enthalten (s. evolutionäre Erkenntnistheorie). Bereits vor den Begründern der engl. Assoziationspsychologie hatte Leibniz über die «Assoziation von Ideen» geschrieben und anschauliche Bsp. von Vorgängen des Lernens gegeben (Verhave, 1967). Zum Verhältnis von Seelischem und Körperlichem in ihrem parallelen Ablauf postulierte Leibniz, dass seelische Vorgänge dem Zweckprinzip (Teleologie), körperliche Vorgänge dem Kausalprinzip folgen. Er schrieb in der Monadologie: «Die Seelen handeln gemäß den Gesetzen der Zweckursachen durch Strebungen, Ziele und Mittel. Die Körper handeln gemäß den Gesetzen der Wirkursachen oder der Bewegungen. Und die zwei Reiche, das der Wirkursachen und das der Zweckursachen, stehen miteinander in Harmonie.» Wundt prägte den Begriff des Psychophysischen Parallelismus und verlangte ebenfalls zwei kategorial grundversch. Bezugssysteme mit eigenständigen Erkenntnisprinzipien und Methoden.

Mit den Begriffen Perzeption und Apperzeption bez. Leibniz den Übergang von einer unbemerkten kleinen Sinnesempfindung zur bewusstenWahrnehmung, die Verbindung mit anderen Bewusstseinsinhalten und so die Aufnahme in das indiv. Bewusstsein und Selbstbewusstsein. Dieser Prozess ist motiviert durch das indiv.Streben [lat. appetitus] eines Menschen. Diese Def. entspricht Leibniz’ Lehre vom Kontinuitätsgesetz der min. Veränderungen und seinem Prinzip der Dynamik in der Physik. Die Annahme eines Kontinuums mit best. Sinnesschwellen (Wahrnehmungsschwelle) wurde ein Leitgedanke der Psychophysik von Gustav Theodor Fechner und Wilhelm Wundt. Während sich Johann Friedrich Herbarts Apperzeptionsps. u. a. mit der Verbindung der neuen Vorstellungen mit der Masse vorhandener Vorstellungen befasste, berücksichtigte Wundt auch das Streben, d. h. die willentlichen (Wille) und instinktiven (Instinkt) Vorgänge mit ihren begleitenden Gefühlen, bspw. in der willentlich gerichteten Aufmerksamkeit. Hier zeigen sich gegensätzliche Positionen, die als Intellektualismus bzw. Voluntarismus in der Ps. bez. werden. Erkenntnistheoret. behauptet Leibniz einen Monismus, denn Psych. und Körperliches bilden eine lebendige Einheit in der Vielfalt [lat. unitas in  multitudine]; er prägte auch den Begriff der Perspektive. Die Bereitschaft und Fähigkeit zum Perspektivenwechsel (Perspektivenübernahme), d. h. einander wechselseitig ergänzender Betrachtung, bilden einen Grundgedanken von Wundts Wissenschaftstheorie der Ps. Wundt (1917, 117) äußert sich so über Leibniz, wie es auch für ihn selbst gilt: «das Prinzip der Gleichberechtigung einander ergänzender Standpunkte» spielt in seinem Denken eine bedeutende Rolle, Standpunkte, die «einander ergänzen, zugleich aber auch als Ggs. erscheinen können, die erst bei einer tieferen Betrachtung der Dinge sich aufheben.»

Referenzen und vertiefende Literatur

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