Längsschnittuntersuchung

 

[engl. longitudinal study], [FSE], Untersuchung ein- und derselben Stichprobe von N Personen zu einer überschaubaren Anzahl von Gelegenheiten (T) meist über längere Zeiträume in einem oder mehreren Merkmalen (V). Ziel der Längsschnittuntersuchung ist die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage der auf natürliche Art, d. h. durch Entwicklung/Altern (Entwicklungsphasen, -stufen, Altersforschung, Psychologie des Alterns), aber auch durch systemischen Wandel des Kontexts oder durch Intervention bewirkte Veränderung in V. Prospektiver und retrospektiver Längsschnitt, Panel-Technik, Trend-Studien, Zeitreihenanalyse, Life-Event-Forschung, Survival-Modelle (Hazard-Funktion), Multi-Kohorten-Sequenz-Design (Nationales Bildungspanel (NEPS)) im Alter x Kohorte x Zeit-Paradigma (Baltes, Paul) sind Varianten von Längsschnittuntersuchungen, die sich im Raum Personen (N) x Messzeitpunkte (T) x Variablen (V) positionieren lassen, z. B. Panel-Studie – eher großes N; Zeitreihe – eher kleines N, viele T. Eine Querschnittsuntersuchung kann als eine «Zeitscheibe» (T=1) in dem System N x T x V gesehen werden (Altersveränderungen).

I. S. der Mehrebenenanalyse hat jede Längsschnittuntersuchung (mind.) eine Zwei-Ebenen-Struktur: durch wiederholte Beobachtungen (eine Ebene) an den einzelnen Individuen (eine weitere Ebene), die z. B. Familien, Schulen, Kohorten, Nationen angehören – eine dritte mögliche Design- und Analyseebene.

Bei Längsschnittuntersuchungen führt das Ausscheiden (Dropout) von Personen zu Stichprobenminderung, ein systematischer Fehler (attrition bias), wenn sie kein Abbild eines Populationsprozesses ist. Dieser Selektivität kann teilweise a priori bei Kenntnis der Mechanismen des Stichprobenschwunds durch gezielte kompensatorische Stichprobenziehung (oversampling) entgegengewirkt werden. Nicht vorhersehbar ist, ob Personen Messzeitpunkten fernbleiben (unit nonresponse) oder einige Items nicht beantworten (item nonresponse) (missing data, Missing-Data-Prozesse).

Um Prozesse zu beschreiben, steht bei Längsschnittuntersuchungen die Kovariation der untersuchten Merkmale (V) mit der Zeit (T) im Fokus. Deswegen sind in einer Längsschnittuntersuchung Anzahl der und Abstände zw. den Messzeitpunkten (spacing und timing) über eine causal lag theory zu realisieren. Dabei besteht i. d. R. das Problem, dass nicht nur das Merkmal von Interesse mit der Zeit kovariiert, d. h. sich verändert, sondern auch Prädiktoren, Kontexte und Kovariaten dies tun. In jedem Falle sind also stat. Modelle einzusetzen, die den Abhängigkeitsstrukturen all dieser Bereiche über die Wiederholungsmessungen hinweg Rechnung tragen.

Nur eine Längsschnittuntersuchung bietet die Möglichkeit, intraindiv. Veränderungen quant. (z. B. Wachstum) und qual. Art (z. B. Struktur) und interindiv. Differenzen und Ähnlichkeiten in eben diesen intraindiv. Veränderungen zu beschreiben, deren Charakteristika und Determinanten zu ermitteln und zu modellieren. Wachstum oder Minderung einer Fähigkeit (z. B. Intelligenz) lassen sich beschreiben durch (Entwicklungs-)Funktionen, (Stabilität von) Verlaufskurven etc. und dahingehend untersuchen, welches Populations-Wachstums-Modell die gruppenspezifischen bzw. indiv. Verläufe in der Stichprobe generiert hat (Mehrebenenanalyse; Wachstumskurvenmodelle, latente). Die dafür notwendigen Statistiken Mittelwert (z. B. steigend, fallend; arithmetisches Mittel), Varianz (z. B. bleiben homogen, werden heterogen) und Kovarianz/Korrelation (innerhalb und über die Messzeitpunkte hinweg) variieren unabhängig voneinander. Die Korrelation einer beobachteten Variablen zu zwei Messzeitpunkten kann nur dann als Indikator für Stabilität oder für eine trait-state-Unterscheidung dienen, wenn die Reliabilitäten (Reliabilität) pro Messzeitpunkt bekannt sind (Veränderungsmessung, messtheoretische Aspekte). Ansonsten benötigt man zur separaten Schätzung von Reliabilitäten und der Stabilität mehrere Messungen pro Konstrukt und/oder Längsschnittuntersuchung mit mehr als zwei Messzeitpunkten.

Nur eine Längsschnittuntersuchung bietet die weitere Möglichkeit, Veränderungen in der Struktur oder die Struktur der Veränderung zu untersuchen. Diese zeigen sich als komplexe Aufbauprozesse i. S. von Sequenzen, Stufen (Entwicklungsphasen, -stufen), Hierarchien (Latente Klassenanalyse) und/oder als Veränderung der Vernetzungsdichte oder -stärke der Merkmale, d. h. ob «gleiche» Faktoren pro Messzeitpunkt, «ähnliche» Ladungen pro Faktor und Messzeitpunkt und «ähnliche» Beziehungen zw. den Konstrukten pro Messzeitpunkt vorliegen, d. h. faktorielle Invarianz (Messinvarianz) oder Differenzierung/Integration (Divergenzhypothese, Faktorenanalyse).

Letztlich geht es bei Längsschnittuntersuchungen darum, die Bedingungen für Veränderungen bei Individuen oder Gruppen zu identifizieren (Konditionalanalyse), aber auch durch Modellierung von Wirkungszusammenhängen die Ursachen für Veränderungen zu ermitteln (Kausalanalyse; Kausalität). Für Letzteres ist – als notwendige Bedingung – die Gerichtetheit der Zeit bei Modellbildung und stat. Analyse explizit zu berücksichtigen. Die skizzierten Fragestellungen bzgl. Struktur, Reliabilität und Stabilität, Verläufen von Veränderungstrajektorien (LGC, Latent Growth Curves) lassen sich mit Strukturgleichungsmodellen im Kontext zeitgerichteter Modelle behandeln. Ohne die zus.wachsenden Familien Strukturgleichungs- und Mehrebenenmodelle ist heute keine Auswertung von Längsschnittuntersuchungen mehr möglich.

Als Bsp. einer bes. (der ersten dt.) Längsschnittuntersuchung ist die von Coerper et al., 1954 an dt. Nachkriegskindern zu erwähnen, die die schwierigen Entwicklungsbedingungen der Zeit verdeutlichte. Als «moderne» Längsschnittuntersuchung sei die Seattle-Studie von Schaie (2005) genannt.

Multi-Kohorten-Sequenz-Designs kombinieren quer- und längsschnittliche Designs. In der Epidemiologie werden prospektive Kohortenstudien eingesetzt, um z. B. das Risiko von potenziellen Erkrankungsdeterminanten zu best.

Referenzen und vertiefende Literatur

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