Krise der Psychologie

 

[engl. psychology in crisis, gr. κρίσις (krísis)Beurteilung, Zuspitzung],[HIS, PHI], bez. eine problematische Entscheidungssituation oder einen Wendepunkt, meint also eine schwierige Lage der Ps., in der sich die Auseinandersetzung zw. versch. Richtungen deutlich kundtut oder zuspitzt. Seit den Anfängen der empir. Ps. im 19. Jhdt. haben viele Autoren auf grundsätzliche Widersprüche hingewiesen und eine tief reichende Struktur- und Dauerkrise der Ps. erkannt. Andere sehen vorübergehende Entwicklungskrisen, in denen sich viele Psychologen neu orientieren oder Teilgebiete in theoret. oder praktischer Sicht neu organisiert werden. Andere Psychologen akzeptieren einen Aufgaben-Pluralismus und eine breite Professionalisierung, ohne der Grundfrage nach einem gemeinsamen wiss. Bezugssystem nachzugehen. Weiterhin gibt es Forscher, die sich auf dem langen Weg zu einer Einheitstheorie der Ps. nach dem Vorbild der Theoret. Physik sehen.

Die Meinungsvielfalt ist in der Fachliteratur offensichtlich. Ein Teil folgt weiterhin dem Vorbild der Naturwissenschaft und strebt durch Quantifizierung, Mathematisierung, Modellierung, Computersimulationen und neurowiss. Konzepte die ihres Erachtens wiss. geforderten Reduktionen an, die letztlich auch genaue Vorhersagen ermöglichen sollen. Ein Teil hält diese Orientierung für grundsätzlich falsch und aussichtslos, von unreflektierten Postulaten geleitet und auf inadäquate, nicht «gegenstandsangemessene» (Gegenstandsnähe, Prinzip der) Methoden fixiert (Psychologie, sozialwissenschaftliche). Andere Psychologen sind von den fundamentalen Konsequenzen phil.-erkenntnistheoret. Vorentscheidungen und vom Pluralismus der Theorien und Methoden überzeugt; andere zweifeln, ob diese Auseinandersetzungen überhaupt für ihre Forschung oder ihre Berufspraxis relevant sind.

Der Begriff Krise ist mehrdeutig: (1) eine Aufbaukrise oder Reifungskrise, die in der weiteren Entwicklung durch neue Forschungsergebnisse oder eine theoret. Umorientierung zu überwinden ist; (2) ein zum wissenschaftlichen Fortschritt notwendiger Umbruch der bisherigen Theorien und Methoden, d. h. ein Wechsel des Paradigmas bzw. eine wiss. Revolution i. S. von Kuhn; (3) eine zeitweilige oder auch wiederkehrende Vorherrschaft einer der konkurrierenden Richtungen mit deutlicher Abwehr der anderen, je nach Fortschreiten der wiss. Bestätigung, Fruchtbarkeit, Überzeugungskraft und öffentlichen Geltung i. S. von Lakatos und Feyerabend; (4) eine Strukturkrise auf lange Sicht aufgrund der ungelösten Kontroversen über Erkenntnistheorie und Methodologie, KategorienlehreMenschenbilder und praktische Zielsetzungen (Theoretische Psychologie).

Das Fach Ps. wird seit Beginn von grundsätzlichen Zweifeln und zugespitzten Urteilen begleitet. Das erste Buch mit dem Titel Die Krisis in der Psychologie stammt 1899 von dem Philosophen Willy. Nach dem ersten Weltkrieg entstanden vier Bücher über die Krise der Psychologie (Driesch, Bühler, Vygotskij und Politzer); außerdem gab es sehr kritische Artikel (Gutberlet, Gutberlet u. a.). Zit. wird heute oft nur das 1927 erschienene Buch von Bühler, dessen unzureichende Darstellung u. a. von Hofstätter beanstandet wurde. Bühler sah eine Aufbaukrise, korrigierte sich jedoch später und behauptete – «mit Schrecken» – eine Strukturkrise.Die Mehrzahl der Autoren scheint darin übereinzustimmen, dass es sich nicht um eine Entwicklungskrise handelt, sondern um eine Strukturkrise der Ps. Wichtige Gründe für Traditionsbrüche und Krisen gab es in Dt. auch durch die Weltkriege, die Inflationszeit, die Ost-West-Konfrontation, und gerade in der Ps. durch die Vertreibung der jüdischen Psychologen während der Herrschaft des Nationalsozialismus (Nationalsozialismus, Psychologie im). Aspekte der Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsps. von Krise und Erneuerung wurden in neuerer Zeit, u. a. von Fleck (eher mit Blick auf die Med.), Collingwood, Kuhn, Traxel, Riegel, Benetka, Riegel, diskutiert, polit. und gesellschaftskritische Forderungen von Holzkamp und Legewie (s. Neue Gesellschaft für Ps.), sodass Argumente gegen diese «Erneuerungsrhetorik» (Herrmann) provoziert wurden. Es mangelt jedoch an Seitenblicken auf die Nachbardisziplinen und auf allg. Krisenlagen sowie an Analysen der institutionellen und staatlichen Bedingungen (Institutsgründungen, Prüfungsordnungen), an Daten über Trends und intellektuelle Moden der Ps. und allg. an empirisch fundierten Analysen zur Wissenschaftssoziologie und Wissenschaftsps. dieser Disziplin. Ungewiss bleibt, ob jemals ein größerer Anteil der Psychologen meinte, dass sich «die Ps.» in einer Krise befinde. Abgesehen vom Thema der Professionalisierung fehlt eine kompetente Forschung über die grundsätzlichen Einstellungen von Psychologen, die an der Universität oder in der Praxis tätig sind. Im angloamerik. Bereich sind Publikationen zur Psychology in crisis (Hughes, 2018) selten; es gibt jedoch andere Begriffe wie paradigm shift (z. B. Kognitive Wende), scientific revolution«chaos in psychology» oder The life cycles of psychological ideas (Dalton & Evans, 2005) mit empirischen Untersuchungsansätzen.

Referenzen und vertiefende Literatur

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