Kreativität

 

[engl. creativity; lat. creare erschaffen, hervorbringen], [KOG, PÄD, PER], das psychol. Konstrukt der Kreativität vollzieht im 20. Jhd. eine Demokratisierung des aus der Epoche des Sturm und Drangs (ab ca. 1765) sowie der Romantik (frühes 19. Jhd.) stammenden Genie-Konzepts. Dabei kennt die v. a. auf den (literarischen) Künstler bezogene Genie-Ästhetik des 18. Jhd. bereits zwei Traditionen, nämlich das auf die gesamte Persönlichkeit ausgerichtete Bild des Genius [lat. genius] sowie die auf die spezif. Begabung [lat. ingenium] fokussierte Perspektive des schöpferischen Prozesses. Diese parallelen Akzente halten sich auch in der Folgezeit durch, in der bis zur Mitte des 20. Jhd. die Genie-Vorstellung (z. T. wieder) über den künstlerischen Bereich hinaus auf Wissenschaft, Technik, Politik etc. ausgedehnt wird. In Fortführung dieser Tradition(en) weist auch die empirische Kreativitätspsychologie, deren Beginn üblicherweise mit der presidential address von J. P. Guilford im Jahr 1950 angesetzt wird, zunächst v. a. die beiden Schwerpunkte der persönlichkeits- sowie prozessbezogenen Analyse auf (Guilford, 1950). Die persönlichkeitspsychol. Perspektive (Persönlichkeitspsychologie) begann (nicht zuletzt aufgrund der Impulsgebung durch Guilford) mit der Frage nach der Relation von Intelligenz und Kreativität, weitete sich aber sukzessive auch auf andere kogn. sowie emotionale und motivationale Aspekte aus. Die Prozess-Perspektive thematisierte sowohl die Phasen als auch die Art und damit (Produkt-)Kriterien des kreativen Problemlösens. Dabei lassen sich drei große, aufeinanderfolg. Forschungsphasen unterscheiden: In der assoziationstheoret. Ära (Assoziationspsychologie) wurden v. a. Interpolationsprobleme untersucht, in der gestalttheoret. (Gestaltpsychologie) Periode standen Syntheseprobleme im Mittelpunkt und seit der Dominanz des Informationsverarbeitungsansatzes dominieren die dialektischen Probleme des komplexen Problemlösens. Kreativität wird daher heute zumeist als eine bes. Qualität des Problemlösens verstanden, die aber grundsätzlich allen Individuen (ggf. in best., umschriebenen Bereichen) als Entwicklungsmöglichkeit offensteht. Dementspr. sind zunehmend Umgebungsvariablen erforscht worden, die der Entwicklung von Kreativität förderlich oder hinderlich sein können. Damit ergeben sich vier große Teilbereiche der kreativitätspsychol. Theoriemodellierung: Produkt(-kriterien), Prozess, Person und Umgebung (im Engl. bisweilen mit press bez., sodass vier p resultieren).

In Übereinstimmung mit der Alltagspsychologie gilt in der empirischen Forschung die Neuheit (oder Originalität) als das wichtigste (Produkt-)Kriterium. Dabei handelt es sich jedoch nicht um eine absolut-historische, sondern um eine relative, auf das jew. Kognitionssystem zurückbezogene Neuheit, in der sich die Demokratisierung als für jeden erreichbare Kompetenz manifestiert. Genauso unverzichtbar ist allerdings die Angemessenheit bzw. Brauchbarkeit der (neuen) Problemlösung, die daher zus. mit der Neuheit die (für Kreativität) notwendige und zugleich hinreichende Kriterien-Kombination darstellt. Alle weiteren Kriterien-Explikationen (bis hin zu 8 Stufen bei Sternberg) dienen nur zur Gradierung des Kreativitätsausmaßes, z. B. in der Unterscheidung zw. der «kleinen», alltäglichen, und der «großen», kulturhistorisch anerkannten Kreativität. Neuere systemtheoret. Modelle (z. B. von Csikszentmihalyi und Gardner) setzen allerdings die Anerkennung durch das jew. (Experten-)Feld sogar als entscheidendes Def.kriterium für Kreativität an, was jedoch zu der kontra-intuitiven Konsequenz führt, dass eine Person (wie etwa van Gogh) u. U. zu Lebzeiten nicht kreativ war und es erst nach dem Tod wurde, ggf. sogar in höchstem Ausmaß.

Die Analyse des kreativen (Problemlöse-)Prozesses konnte auf die frühe introspektive Einteilung in vier Phasen durch Poincaré (1908) zurückgreifen, nämlich Präparation, Inkubation, Inspiration (oder Illumination) und Elaboration (oder Verifikation). Obwohl Ausdifferenzierungen bis hin zu 8 Phasen vorgeschlagen worden sind, hat sich die 4-Phasen-Einteilung auch empirisch bewährt, wobei die lineare Abfolge allerdings als idealtypische Modellierung anzusehen ist, d. h., dass die Phasen im konkreten Prozess i. d. R. mehrfach durchlaufen werden (müssen). Eine intensive Präparation ist notwendig, um die für neue Problemlösungen notwendige Verarbeitungstiefe zu erreichen. Dabei besteht die Schwierigkeit darin, sich die im Wissen implizierten Denkstrukturen anzueignen, ohne sich dadurch in der Flexibilität des Denkens beschränken zu lassen. Diese Flexibilität wird in der Inkubationsphase dadurch realisiert, dass man die bewusste Lösungsfindung zumindest zeitweise aussetzt und so assoziativen Denkprozessen (vgl. auch das psychoanalytische Konzept des Primärprozesses) eine Chance zur Umstrukturierung des Problemfeldes gibt. Die kogn. Umstrukturierung wird dann in der Inspiration plötzlich bewusst und führt zu dem bekannten Gefühl einer schlagartigen Erleuchtung (Archimedes’ Heureka-Ausruf nach Entdeckung des Auftriebprinzips). Die Tragfähigkeit der Lösungsidee muss anschließend in einer Evaluation (z. T. als fünfte Phase eingeführt) überprüft und elaboriert werden. Während für Inkubation und Inspiration das divergente (auf mehrere Lösungsmöglichkeiten gerichtete) Denken (i. S. Guilfords) essenziell ist, spielt für die Elaboration das konvergente (auf die Realisation der einen optimalen Lösung fokussierte) Denken die zentrale Rolle.

Die Frage nach der Struktur der kreativen Persönlichkeit hat seit der Genie-Ästhetik naturgemäß die größte und konstanteste Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das bedeutete für die empirische Kreativitätspsychologie zunächst einmal vor allem eine historische Belastung. Das stärkste Belastungsgewicht kommt eindeutig der These von «Genie und Wahnsinn» (durch Lombroso 1887) zu, die zu einer Fülle von sog. Pathografien geführt hat, in denen der genetische Zus.hang von Psychose und Kreativität belegt werden sollte. Die systematische empirische Überprüfung (auch durch Vergleich mit der Normalpopulation) hat diesen Zus.hang so nicht belegen können, sondern z. B. zu alternativen Erklärungshypothesen geführt, wie etwa, dass Kreativität ein bes. Bewältigungspotenzial für psych. Erkrankungen enthält. Auch die Freud’sche These einer Parallelität von Kreativität und Neurose und damit die Unterstellung einer zwanghaften Regression auf den Primärprozess etc. wird der Flexibilität des kreativen Denkens in keiner Weise gerecht und ist daher von der Ich-psychol. Schule der Psychoanalyse (nach 1950) zurückgenommen und in das Konzept einer «Regression im Dienste des Ich» (Kris) überführt worden. Demgegenüber hat sich die empirische Kreativitätspsychologie (v. a. in Form des Intelligenz-Strukturmodells von Guilford; Intelligenz-Struktur) zunächst auf die Relation von Intelligenz und Kreativität konzentriert. In Guilfords Modell der 120 Intelligenzfaktoren spielt für Kreativität in erster Linie das divergente Denken (mit Aspekten der Denkflüssigkeit, -flexibilität und -originalität) eine Rolle, sodass anfangs Kreativität (unzulässigerweise) mit divergentem Denken identifiziert wurde. Auch die (Grenzwert-)These, dass sich die Kovariation von Intelligenz und Kreativität über der Schwelle von 120-IQ-Punkten auflöst, hat sich empirisch so nicht halten lassen. Für die umfassende(re) Modellierung der kreativen Persönlichkeit kam in der Folge ein entscheidender Impuls aus den (quant. wie qual. Methoden einsetzenden) Untersuchungen von Barron (ab den 1960er-Jahren), der bei (lebenden) Kreativen eine pos. Kovariation von (psychopathologischen) Ängsten und Ich-Stärke nachweisen konnte, während in der Normalpopulation zw. diesen Variablen eine neg. Korrelation vorliegt. Daraus entwickelte sich die Annahme einer paradoxalen Grundstruktur der kreativen Persönlichkeit, die ansonsten divergierende Eigenschaften konstruktiv verbindet. Diese mittlerweile weitestgehend akzeptierte Modellierung ist für alle relevanten Dimensionen differenziert nachgewiesen und lässt sich schlagwortartig zus.fassen als aktive Kontemplation (für die kogn. Dimension), zweifelnde Selbstsicherheit (emotional-motivational) und unangepasste Anpassung (soziales Handeln).

Bei den Umweltfaktoren spielen Familie und Schule (als informelle und formelle Sozialisationsinstanz) die zentrale Rolle. Für beide gilt, dass sie einerseits für die Kreativität höchst förderlich sein können, andererseits aber mind. genauso stark hinderlich. In der Familie ist ein kogn. anregendes Klima entscheidend, das u. a. durch Fehlertoleranz intrinsische Motivation und intellektuelle Neugier fördert. Allerdings muss ein darauf ausgerichteter Erziehungsstil möglichst durch das entspr. elterliche Bsp. fundiert sein, was gerade in bildungsfernen Schichten häufig fehlt, sodass die kindliche Kreativität u. U. schon frühzeitig verschüttet wird. Solche familiären Neg.dynamiken kann die Schule zumeist nicht pos. umpolen, im Gegenteil: Ein auf Leistungs- und Konkurrenzdruck ausgerichtetes Lernklima verschärft die K.hemmnisse noch. Kreative Kinder stellen häufig ein Problem für die Klassendisziplin dar, sodass Lehrende z. T. sogar Kreativität unsinnigerweise mit Konformität identifizieren, anstatt als charismatisches Modell eine Zugmotivation auszuüben. Dementspr. haben viele Erwachsene das Gefühl, ihr Kreativitätspotenzial nicht optimal auszuschöpfen, was zum Erfolg der überaus zahlreichen Kreativitätstrainings beiträgt, in denen Techniken wie Brainstorming, synektische Methoden etc. eingeübt werden. Der Erfolg solcher Trainings ist nur schwer zu beurteilen, da sie selten durch Kreativitäts-Tests überprüft werden und die (wenigen) Testverfahren außerdem darunter leiden, dass die (zeitbegrenzte) Testsituation die Übertragbarkeit auf die Alltagsrealität (Validität, externe) von vorneherein einschränkt. Zudem setzen die Kreativitäts-Trainings akzentuierend an der Inkubations- und Inspirationsphase an und können so zwar die Aktualisierung der vorhandenen persönlichen Kreativität verbessern, doch zu einer substanziellen Kreativitätssteigerung ist sicherlich ein umfassender entspr. Lebensstil vonnöten.

Referenzen und vertiefende Literatur

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