Komplementaritätsprinzip

 

[engl. complementarity principle; lat. complere ergänzen], [FSE, PHI], ist ein erkenntnistheoret. Begriff für zwei gegensätzliche, einander ausschließende, nicht aufeinander reduzierbare Beschreibungsweisen oder Versuchsanordnungen, die aber zum Verständnis eines Phänomens oder Sachverhaltes im Ganzen notwendig sind. Häufig ist nur ein Sowohl-als-auch gemeint, doch gibt es auch methodologisch strengere Begriffsfassungen. Ähnliche Auffassungen und Vorläufer dieses Konzepts sind zu finden: in der chinesischen Philosophie mit dem Yin-Yang-Prinzip, in Baruch de Spinozas Zwei-Attribute-Lehre (Doppel-Aspekt-Lehre), nach welcher Geist und Materie zwei Seiten ein- und derselben Sache sind («una eademque res»), oder bei Gottfried Wilhelm Leibniz; in der Ps. bei Fechner und in der Erkenntnislehre Wundts.

Der Physiker Niels Bohr prägte 1927 den Begriff Komplementarität für den Sachverhalt, dass das Licht in best. physikal. Versuchsanordnungen als Wellenphänomen erscheint, in anderen Versuchsanordnungen als Teilchenstrahlung. Diese Ergebnisse aus eigenständigen, einander ausschließenden Experimenten ergänzen sich wechselseitig zum Gesamtbild der Wirklichkeit und überwinden ihre jew. «meth. Blindheit» (C. F. von Weizsäcker) für an sich gleichzeitig bestehende Eigenschaften eines Sachverhalts. Eine Entsprechung des Komplementaritätsprinzips findet sich in Werner Heisenbergs quantenphysikal. Unschärferelation, dass Ort und Impuls eines Teilchens nicht gleichzeitig zu erfassen sind.

In Niels Bohrs (1931, 1937) Begriffsbildung sind drei Varianten auseinanderzuhalten: Die Version 1 besagt, dass eine Komplementarität von Beschreibungen (Beobachtungen) auf derselben Ebene von Kategorien besteht, denn beide, Welle und Teilchen, sind elementare physikal. Konzepte. Bei Version 2 wird eine Komplementarität von Beschreibungen auf kategorial versch. Ebenen behauptet. Bohr nannte hier bereits den Ggs. von Beobachter und Beobachtetem (Akteur-Beobachter-Unterschied), Subjekt und Objekt (heute auch Erste- und Dritte-Person-Perspektive genannt) sowie das Leib-Seele-Problem u. a. Version 3 meint Komplementarität als universale Erkenntnishaltung und wiss. Programm (nach Bohrs Motto: «contraria sunt complementa» – Ggs. ergänzen sich).

Das Komplementaritätsprinzip wurde in versch. Wissenschaftsbereiche übernommen, z. B. in die Komplementärmed., wird häufig nicht als Lösung eines Problems, sondern als Vermittlungsversuch verstanden und steht damit Konzepten wie Multiplismus, Perspektivität und Perspektivenwechsel, multireferenzielles Konstrukt nahe. Kritisch wurde eingewendet, die Verallgemeinerung des ursprünglichen Begriffs auf andere Ggs. liefere kaum mehr als eine Metapher. Der Begriff Komplementarität sei im Grunde überflüssig oder decke Widersprüche nur zu. Nicht jedes Paar von Ggs., jedes Dilemma oder jede Dualität könne als komplementäre Relation bez. werden. Andere Autoren behaupten eine heuristische, beziehungsstiftende Funktion und methodologische Fruchtbarkeit. Im Bereich der Ps. kann das vage Sowohl-als-auch auf eine striktere Fassung begrenzt werden: die Zuordnung von zwei in ihren Kategorien-Ebenen (Allg.begriffen) grundversch., eigenständigen Bezugssystemen, insbes. im Hinblick auf das Leib-Seele-Problem und auf die subj. und neurophysiol. Sicht der Willensfreiheit.

Komplementarität in strikterer Fassung als mehrstelliger Relationsbegriff und Ebenen-übergreifendes Prinzip (angelehnt an Bohrs Version 2) besagt: (1) erkenntnisbezogen (epistemologisch) die Verbindung von zwei kategorial grundversch. Erkenntniszugängen (Bezugssystemen, Beschreibungssystemen) zu einer ganzheitlichen Auffassung, (2) methodologisch die operative Geschlossenheit jedes dieser Bezugssysteme hinsichtlich Gültigkeitskriterien, Bestätigungs- und Falsifikationsweisen in einer konsistenten, scheinbar erschöpfenden Beschreibung, wobei die jew. typ. Methoden einander ausschließen, da sie nicht gleichzeitig, sondern nur im Wechsel genutzt werden können, (3) die Wirklichkeit ist erst dann repräsentiert, wenn beide Bezugssysteme bzw. Beschreibungen zum Gesamtbild kombiniert werden (wie die subj. und die physiol. Vorgänge während einer psychophysischen Emotion). Die Idee der Komplementarität ist kein Lösungsversuch des zugrunde liegenden Ggs., sondern eine Vermittlung, damit Kategorienfehler und inadäquater Reduktionismus erkannt und überwunden werden. Das Komplementaritätsprinzip würde im konkreten Forschungsfall eine ausdrückliche Begründung verlangen, wenn auf eines der beiden Bezugssysteme, dort wo es praktisch möglich ist, verzichtet wird. Für die Methodenlehre der Ps. und Neurops. folgt, dass die introspektiv-bewusstseinspsychol. Methoden «gleichberechtigt» mit den biol.-verhaltenswiss. Methoden sind: nicht entweder Selbstberichte und Selbstbeurteilungen oder physiol. Funktions- und Verhaltensmessungen, sondern eine zielstrebige Nutzung beider Erkenntniswege. Das Komplementaritätsprinzip setzt jedoch voraus, dass es sich extensional um «denselben» zugrunde liegenden Prozess, «dasselbe» Ereignis, handelt. Im Unterschied zum physikal. Phänomen «Licht» sind bei der Übertragung auf den psycho-physischen Prozess, z. B. einer Emotion, Aussagen auf zwei kategorial versch. Ebenen einander zuzuordnen, sodass sich empirisch-definitorische Schwierigkeiten einstellen können, das Zus.gehörige hinreichend zu identifizieren. Die Diskussion über das Komplementaritätsprinzip wurde u. a. durch Walach & Römer (2000)Reich (2002) über Relational and Contextual Reasoning and the Resolution of Cognitive Conflicts sowie Hoche (2008) zum Anthropological complementarism weitergeführt. Triangulation.

Referenzen und vertiefende Literatur

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