Familienrechtspsychologie

 

[engl. family law psychology], [RF, SOZ], ist eine Teildisziplin der Rechtspsychologie. Gegenstand sind Erleben und Verhalten beim Auf- und Abbau familiärer Beziehungen, soweit sie der rechtlichen Einflussnahme bedürfen. Zwar ist das auf alle Phasen der familiären Entwicklung zu beziehen. Im Mittelpunkt stehen aber Abbau bzw. Reorganisation bestehender familiärer Beziehungen, weil hier die Wahrscheinlichkeit überfordernder Konfliktverläufe (Familien, Hochkonflikt-, Konflikt, sozialer) am größten ist und weil in der Rechtspraxis v. a. bei konflikt- und stressbelasteten Beziehungsverläufen ps. Sachverstand beigezogen wird.

Einbezogen sind Erleben und Verhalten sowohl der Konfliktbetroffenen, z. B. die Bewältigungsstrategien von Kindern oder das Streitverhalten von Eltern in Trennungsfamilien, wie auch der beteiligten Konfliktmanager, z. B. Richter, Jugendamtsmitarbeiter oder Gutachter. Aktionsfeld und Bezugsrahmen sind sowohl geltendes Familien-, Verfahrens- und Jugendhilferecht wie auch notwendiges wünschenswertes Recht, d. h., es wird auch de lege ferenda gearbeitet und dazu beigetragen, Recht zu entwickeln. Neben der Verankerung in der Rechtsps. bestehen enge Beziehungen zur Familien-, Entwicklungs- und Sozialps. sowie zur Klinischen und Päd. Ps.

Spezif. Arbeitsgegenstände der Familienrechtspsychologie sind z. B. (1) Dysfunktionale Familienbeziehungen, Stresserleben, Coping und Interventionsbedürftigkeit; (2) Konfliktverläufe in Trennungsfamilien, Konfliktmanagement, Voraussetzungen und Grenzen von Beratung, Mediation, Therapie, Möglichkeiten der Ressourcenentwicklung der Eltern zur besseren Kooperation; (3) Psychopathol. Devianzen im Trennungsgeschehen; (4) Bindungen und emot. Beziehungen des Kindes zu seinen Bezugspersonen; (5) Belastungserleben und Verlustängste von Kindern im Trennungsstreit von Erwachsenen; (6) Stressbewältigung von Trennungskindern; (7) kindliches Zeitempfinden in Trennungsverläufen und familienrechtliche Intervention; (8) Manipulation und Einbeziehung von Kindern in den Trennungsstreit (Parental Alienation Syndrom (PAS)); (9) Erziehungskompetenzen von Eltern; (10) Rolle von Geschwisterbeziehungen in Trennungsverläufen; (11) Diagnostik von Bindungen und Beziehungen, Konfliktverläufen, Persönlichkeitsstörung; Spannungsfeld von Diagnostik und Intervention; (12) Entscheidungsfindung in Familienrechtskonflikten und bei den beteiligten Professionellen.

Ein wichtiger Anwendungsbereich ist die Sachverständigentätigkeit. Die oben genannten Arbeitsgegenstände fließen hier ein in gerichtliche Fragestellungen, z. B. nach der Regelung des Sorgerechts, des Umgangs, der Herausgabe eines Kindes (Sorgerecht, Herausgabe eines Kindes), nach der Erziehungsfähigkeit inkl. Bindungstoleranz von Eltern, nach dem Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung inkl. eines Verdachts auf sexuellen Missbrauch oder Kindesmisshandlung (Kindeswohl, sexueller Missbrauch), nach der Notwendigkeit bzw. den Folgen eines Sorgerechtsentzugs oder Umgangsausschlusses, nach der Notwendigkeit einer Fremdunterbringung oder einer Adoption eines Minderjährigen.

Dass Spannungsfeld von Diagnostik und Intervention ist dadurch belebt worden, dass das Familiengericht nach § 163 Abs. 2 FamFG beschließen kann, dass der Sachverständige auf Einvernehmen hinwirken soll. Dies kommt dem Bestreben nach solider modifikationsorientierter Diagnostik entgegen und ändert nichts an der weisungsgebundenen Gehilfenstellung des Sachverständigen gegenüber dem beauftragenden Familiengericht (§ 404a ZPO, § 15 Abs. 1 FGG). Die familienrechtspsychol. Sachverständigentätigkeit ist wegen ihrer Bedeutsamkeit Forschungsgegenstand und Objekt ständiger Bemühung um Qualitätssicherung (Salzgeber, 2011).

Die familienrechtspsychol. Forschung und Praxis ist wesentlich mitbestimmt durch gesellschaftlichen Wandel (Zeitgeist) und entspr. Veränderungen in Rechtsdenken und Rechtspolitik. Dazu gehören z. B. der radikale Perspektivenwechsel von den Eltern(rechten) hin zum Vorrang des Kindeswohls, die Tendenz, die Gestaltung von Familienbeziehungen immer mehr der Autonomie der Beteiligten zu überlassen, der Wandel vom reaktivem Eingriff hin zur fördernden Gestaltung inkl. der akt. Tendenz zum deeskalierenden Intervenieren im Familiengerichtsverfahren, aber auch in der Intensivierung des Kinderschutzes. Die Effekte in der Gesetzgebung und Rechtsprechung betreffen dann insbes. die ps. Sachverständigentätigkeit, so z. B. Rechtsnormen zur Einbeziehung von Gutachtern in die Konfliktvermittlung, die rechtliche Gleichstellung ehelicher und nicht ehelicher Kinder, die Reformierung der Stellung von Lebensgemeinschaften, inkl. gleichgeschlechtlichen, die veränderten Regelungen zu nicht verheirateten Kindeseltern, aber auch modifizierte Rechtsvorschriften zur Prüfung von Kindeswohlgefährdungen.

Diese Bewegungen erhöhen die Komplexität und bergen Widersprüche, die nicht mehr allein mit rechtlichen Mitteln bewältigt werden können, sondern den Bedarf an familienrechtspsychol. Kompetenz erhöhen. Unscharf sind z. B. die Grenzen zw. grundgesetzlich gebotener Autonomie der Familie inkl. größtmöglicher Freiheit von staatlichen Eingriffen und der Wahrnehmung des staatlichen Wächteramts (Art. 6 Abs. 2 GG) auch gegen die Eltern oder die Grenzen zw. dem Interpretationsprimat der Eltern für das Kindeswohl und dem Eingriffsrecht des Staates bei gefährdender Kindeswohlinterpretation der Eltern. In der Sachverständigentätigkeit hat dies z. B. Folgen bei der Begutachtung von Risiken für das Kindeswohl wie Misshandlung oder Missbrauch. Die Tendenz, den Konfliktbeteiligten immer mehr Autonomie und indiv. Entscheidungsraum zuzugestehen, erzeugt zwangsläufig Widersprüche. Sie kann Schwächeren schützende, ordnende Bestimmungen entziehen und Beratungsnot erzeugen. Der Widerspruch zw. Autonomie und Hilfebedarf wird noch verschärft, wenn Konfliktbeteiligte nach jahrelangem Streit zu der begründeten Erkenntnis kommen, dass eine vernünftige Konfliktlösung aus eigener Kraft nicht möglich ist, aber statt eine gerichtlichen Entscheidung zu treffen autonomes Anstreben von Einvernehmen verlangt wird (verweigerter Rechtsgewährungsanspruch). Eng damit verbunden ist die mögliche Kluft zw. dem Anspruch von Beteiligten, ihre Angelegenheiten selbstständig zu regeln, und dem wirklichen Vermögen dazu.

Referenzen und vertiefende Literatur

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