Evidenzbasierung

 

[engl. evidence-based auf Nachweise gegründet, nachweisorientiert; lat. evidens augenscheinlich, einleuchtend], [FSE, GES, KLI, PÄD, PHA], bez. die Berücksichtigung und Nutzung der besten verfügbaren Informationen, wenn Entscheidungen getroffen oder Empfehlungen gegeben werden. Evidenzbasierung fordert die systematische Begründung und Integration möglichst aller empirischer Befunde aus hochwertiger Forschung, wenn eine definierte Fragestellung beantwortet werden soll. Im Kontrast zur klassischen Entscheidungsbegründung (insbes. durch Expertenmeinungen (despektierlich: «Eminenzbasierung») werden gezielt identifizierte empir. Nachweise als Grundlage von Entscheidungen eingefordert. Zudem wird der Anspruch formuliert, die empirische Befundlage möglichst vollst. als Informationsbasis zu berücksichtigen. Dabei werden jedoch vorzugsweise diejenigen Befunde berücksichtigt, die maximale Aussagekraft besitzen (höchste Evidenz).

Als primäre Kriterien maximaler Aussagekraft werden klassische forschungsmeth. Gütekriterien verwendet. Der Nachweis der Wirksamkeit einer Maßnahme setzt ein Forschungsdesign mit möglichst hoher interner Validität (Kausalität) voraus: Exp. Befunde (Experiment; randomisierte kontrollierte Studie (RCT)) bzw. die Zusammenfassung der Befunde aus mehreren exp. Studien gelten als beste Basis für evidenzbasierte Entscheidungen. Ausgehend von der Designqualität werden durch das GRADE-System (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) Evidenzklassen für Studienbefunde definiert:

Klasse Ia: Evidenz aufgrund wenigstens einer Metaanalyse auf der Basis meth. hochwertiger RCTs.

Klasse Ib: Evidenz aufgrund mind. einer meth. hochwertigen RCT.

Klasse IIa: Evidenz aufgrund mind. einer hochwertigen kontrollierten, jedoch nicht randomisierten Studie.

Klasse IIb: Evidenz aufgrund einer hochwertigen quasi-exp. Studie (Quasi-Experiment).

Klasse III: Evidenz aufgrund meth. hochwertiger, nicht exp. deskriptiver Studien, z. B. Korrelationsstudie (Korrelation), Fall-Kontroll-Studie.

Klasse IV: Evidenz aufgrund von systematisch integrierter Expertenmeinungen; beschreibende Studien.

Klasse V: Fallserie oder eine oder mehrere Expertenmeinungen

Die Evidenz nimmt mit abnehmender Klassenstufe zu. Neben der internen Validität muss die Passung der Studieninhalte zu der Entscheidungssituation berücksichtigt werden. Zudem sollte nicht nur die kontrollierte geprüfte Wirksamkeit (Efficacy), sondern auch die Wirksamkeit in der Routinepraxis (Effectiveness) berücksichtigt werden. Die Prüfung in unterschiedlichen Anwendungskontexten erhöht i. d. R. die externe Validität der integrierten Befundbeurteilung.

Zunächst fand das Konzept Evidenzbasierung Anwendung im Bereich der Med. (EbM = Evidence-based Medicine (evidenzbasierte Med.); EbHC = Evidence-based Health Care (evidenzbasierte Gesundheitsversorgung)) und wurde zunehmend auch in anderen empirischen Disziplinen, wie z. B. der empirischen Bildungsforschung (Evidence-based Practice), als forschungsmeth. orientiertes Paradigma eingeführt. Ausgehend von der EbM wurden weitere Kriterien für angemessene Evidenzbasierung formuliert: (1) Die Nutzer der Entscheidungen (z. B. Schüler, Pat.) müssen in ihrer indiv. Besonderheit betrachtet werden; (2) Evidenz erforderte einen mehrstufigen Prozess: (a) Für den betrachteten empirischen Fall muss eine beantwortbare Fragestellung formuliert werden (z. B. Soll ein Schüler mit ADHS eine Unterstützungsmaßnahme X erhalten?), (b) Literaturrecherche i. d. R. mithilfe elektronischer Datenbanken (z. B. PsycINFO, MEDLINE) mit kritischer Prüfung der Aussagekraft (insbes. aufgrund des verwendeten Forschungsdesigns; (c) Integration der Befunde (Synthese aller relevanter Befunde aus der Primärliteratur; Metaanalyse) und Bewertung der Evidenz (z. B. Health Technology Assessment, Leitlinie); (d) Anwendung auf den Einzelfall; (3) Die indiv. Expertise des Entscheiders (z. B. Wissen des Lehrer bzgl. der Besonderheiten der Situation des Schülers) und der externen Evidenz (relevante Forschungsbefunde) muss simultan berücksichtigt werden; inzw. existieren öffentlich zugängliche Metaanalysen für vielfältige Fragestellungen in der Med. und der Med. Ps. (z. B. [www.cochrane.de]). (4) Der indiv. Nutzer der Entscheidung (z. B. Schüler, Eltern, Pat.) soll in die Lage versetzt werden, reflektiert zw. Alternativen entscheiden zu können (Partizipative Entscheidungsfindung; informierte Entscheidung).

Als wichtige Kritikpunkte an evidenzbasierten Entscheidungen gelten u. a.: (1) Mögliche unrepräsentative Berücksichtigung der empirischen Daten (Primärstudien; s. Probleme der Metaanalyse; z. B. publication bias); (2) Mögliche meth. Mängel von Primärstudien (z. B. selection bias, attrition bias; Validität der Variablenoperationalisierungen (Surrogatkriterium; Beurteilungsfehler); (3) Überschätzung von Effekten aufgrund von Implementationsproblemen (Lösungsansatz: Intention-to-Treat-Analyse); (4) Favorisierung leichter zu untersuchender Maßnahmen mit einfachen Wirkungsannahmen (z. B. Benachteiligung systemischer gegenüber verhaltensorientierten Ansätzen in der Psychotherapieforschung); (5) Die Forderung nach Integration einer möglichst großen Studienbefundlage widerspricht ggf. der Forderung nach Identifikation für den Einzelfall relevanter empirischer Daten; (6) Die Entscheidungsfindung ist sehr aufwendig, sodass individualisierte Einzelfallentscheidungen oft nicht realisiert werden können; (7) Die Integration der individuellen Expertise des Entscheiders und der externen Evidenz bleibt intransparent und ist fehleranfällig. [www.ebm-netzwerk.de].

Referenzen und vertiefende Literatur

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