Beobachtungslernen

 

[engl. observational learning], [KOG, SOZ], liegt nach Bandura vor, wenn eine Person durch Beobachtung eines Modells (soziale Komponente) neue Verhaltensdispositionen lernt, also Handlungsmuster, die nicht sofort ausgeführt werden (müssen); dabei ist die kogn. Verarbeitung entscheidend, nicht die (direkte, externe) Verstärkung, weswegen Banduras Ansatz auch als sozial-kogn. Lerntheorie (Lerntheorien, Soziale Lerntheorien) bez. wird. Das Konzept des Beobachtungslernen geht kritisch von den Erklärungslücken der traditionellen Konditionierungstheorien (bis 1960) aus, insbes. in Bezug auf das Erlernen komplexer, neuer Verhaltensweisen, die weder durch Reizersetzung (Konditionierung, klassische; Pawlow, Watson) noch durch Versuch-und-Irrtum (instrumentelles Konditionieren; Hull) oder schrittweise Annäherung auf der Basis von Verstärkungsplänen (Konditionierung, operante; Skinner) erklärt werden können. Klassische Ausgangsbeispiele für diese Kritik sind Handlungsmuster, bei denen ein kontinuierliches Lernen zu gefährlich wäre, wie Schwimmen, Operieren, giftige Nahrung Erkennen etc. Damit verschiebt sich das Gewicht von der Verstärkungskomponente auf die kogn. Verarbeitung, durch die Lernen auch ohne unmittelbare Verhaltensausführung möglich ist. Diese Trennung von (Handlungs-)Erwerb (acquisition) und Ausführung (performance) übernimmt Bandura aus der Tradition des kogn. Behaviorismus (Tolman). Damit konzipiert er Lernen (Lernen) v. a. als Beobachtung des Handelns anderer, die als Modell für eigenes Verhalten akzeptiert werden, wobei primär die aufmerksame, differenzierte kogn. Verarbeitung für den Lernerfolg verantwortlich ist. (Motorische) Reproduktionsprozesse (Reproduktion) stellen lediglich eine notwendige Bedingung und motivationale (Motivation) Verstärkungsvarianten (stellvertretende, Fremd- und Selbst-Verstärkung) einen unterstützenden Faktor dar, der sich lediglich auf die situative Verhaltensausführung auswirkt. Diese umfasst neben den neuen Handlungsmustern aber auch die Hemmung/Enthemmung oder Auslösung bereits vorhandener Verhaltensdispositionen (Disposition).

Wer auf welche Weise vom Lernenden als Modell akzeptiert wird, ist von der sozial-kogn. Lerntheorie v. a. pragmatisch beantwortet worden, indem naheliegende Faktoren wie Alter, Geschlecht, Status, Macht, Kompetenz etc. untersucht und als Einflussfaktoren gesichert worden sind. Dabei kommt es nicht zuletzt auf die Ähnlichkeit des Modells mit der lernenden Person an (sowohl in Bezug auf Real-Selbst wie Ideal-Selbst). Bei den vier Teilprozessen des Beobachtungslernen markiert die Aufmerksamkeit den Ausgangspunkt, weil ohne sie eine effektive kogn. Repräsentation des zu beobachtenden Verhaltens nicht möglich ist; die Aufmerksamkeitssteuerung erfolgt nicht nur durch Merkmale des Modells, sondern auch des Lernenden sowie der Situation (Herausgehobenheit, Attraktivität der Reize). Die kogn. Repräsentation des Beobachteten umfasst bei Bandura (unter dem BegriffGedächtnisprozesse) die ges. Informationsverarbeitung von der Codierung (Code) über das Behalten bis zum Abruf der Informationen; dabei haben sich alle Ergebnisse der neueren Gedächtnisps. als relevant auch für das Beobachtungslernen erwiesen. Die Fähigkeit zur (motorischen) Reproduktion bez. im Konzept des Beobachtungslernen eine notwendige Voraussetzung, die bereits beherrscht werden muss, um lediglich durch Beobachtung neue Verhaltensweisen erwerben zu können (z. B. Höflichkeit als best. Form/Sequenz einfacher motorischer Fertigkeiten). Ist diese Voraussetzung nicht gegeben (z. B. bei akrobatischen Fähigkeiten), stellen die motorischen (Teil-)Kompetenzen (Motorik, Psychomotorik) selbst ein Lernziel dar und müssen (z. B. durch operantes Konditionieren; Skinner) erst eingeübt werden. Darin zeigt sich der Theorie-integrative Anspruch des Bandura’schen Ansatzes, der bes. bei der Ausdifferenzierung des motivationalen Teilprozesses zum Ausdruck kommt. Hier unterscheidet Bandura zw. stellvertretender Verstärkung (das Modell wird belohnt oder bestraft), direkt-externer Verstärkung (Belohnung/Bestrafung des Lernenden durch die Umwelt) und Selbstverstärkung (Belohnung/Bestrafung des Lernenden durch sich selbst). Die Effektivität (für die Verhaltens-Performanz) steigt von stellvertretender über die direkte zur Selbstverstärkung an, sodass sich z. B. bei Entgegensetzung von stellvertretender und direkter Verstärkung letztere durchsetzt. Die größte Wirksamkeit besitzt allerdings die Selbstverstärkung, was noch einmal die Klassifikation als kogn. Lerntheorie rechtfertigt.

Nach Etablierung des sozial-kogn. Ansatzes (ab ca. 1980) bestand die Weiterentwicklung v. a. in der Ausweitung zu einer möglichst umfassenden (kogn.-sozialen) Lerntheorie, allerdings z. T. mit dem Effekt von Prägnanzeinbußen durch Begriffsüberziehungen. Das betrifft z. B. die Modell-Instanz, bei der neben den ursprünglichen realen Personen oder (Comic-)Figuren nun auch Texte, Ideen und Denksysteme als abstrakte Modelle einbezogen werden. Außerdem wird über das soziale Lernen hinaus ein abstract modeling postuliert, bei dem es sich auf Lernerseite um eine kogn.-konstruktive Abstraktion und Generalisierung in Richtung auf Regelwissen, Wertvorstellungen etc. handelt (von der muttersprachlichen Grammatik bis zur Moralentwicklung, z. T. auch mit der Generierung völlig neuer, unbeobachteter Kompetenzen (als sog. creative modeling). In Bezug auf die motivationalen (Verstärkungs-)Prozesse hat Bandura selbst die rückwärtsgewandte Perspektive durch eine attributionstheoretische Reformulierung seines Ansatzes aufzuheben versucht und ist dabei mit dem Konzept der Selbstwirksamkeit (self-efficacy, Selbstwirksamkeitserwartung) durchaus erfolgreich gewesen. Die größte Aufmerksamkeit hat die sozial-kogn. Lerntheorie aber, innerhalb wie außerhalb der Wissenschaft, mit der Anwendung des Beobachtungslernen auf den Medienbereich, insbes. das Problem medialer Gewaltdarstellungen (Mediengewalt) erreicht. Dabei führt deren Rezeption nach dem Konzept des Beobachtungslernen zu einer Steigerung von Gewaltbereitschaft, nicht zur kathartischen Läuterung, wie von der klassischen Ästhetiktheorie behauptet und von einigen qual.-psychol. Forschungsansätzen unterstützt. Die Kontroverse zw. Katharsisthese und Postulat des medialen Gewaltlernens stellt daher mittlerweile einen zentralen Bereich der Forschung zum Beobachtungslernen dar.

Referenzen und vertiefende Literatur

Die Literaturverweise stehen Ihnen nur mit der Premium-Version zur Verfügung.

Datenschutzeinstellungen

Wir verwenden Cookies und Analysetools, um die Sicherheit und den Betrieb sowie die Benutzerfreundlichkeit unserer Website sicherzustellen und zu verbessern. Weitere informationen finden Sie unter Datenschutz. Da wir Ihr Recht auf Datenschutz respektieren, können Sie unter „Einstellungen” selbst entscheiden, welche Cookie-Kategorien Sie zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass Ihnen durch das Blockieren einiger Cookies möglicherweise nicht mehr alle Funktionalitäten der Website vollumfänglich zur Verfügung stehen.